Moeri & Partner AG · Landschaftsarchitekten · Mühlenplatz 3 · Postfach · 3000 Bern 13 · T 031 320 30 40 · info[at]moeripartner.ch

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Wie der böse Bach in eine gute Form gebracht wird

Interview: Andreas Staegerzeitpunkt, Berner Zeitung vom 24.7.2010

Designer suchen nach der guten Form für Stühle oder Kaffeekannen. Mit etwas grösser dimensionierten Gestaltungsfragen befasst sich der Berner Landschaftsarchitekt Daniel Moeri. Für die Hochwasserschutzbauten in Brienz hat er eine Formsprache entwickelt, die auf Mensch und Natur Rücksicht nimmt.

Herr Moeri, schlägt die Natur zurück?

Daniel Moeri: Man hört diesen Gedanken häufig. Ich kann damit nichts anfangen. Die Natur ist nicht gegen uns – wir sind ein Teil der Natur und müssen uns mit ihren Gesetzen arrangieren. Die Vorstellung, dass es hier um zwei Pole geht, die miteinander im Konflikt stehen, ist absurd. Der Natur ist es gleichgültig, was der Mensch tut, und es ist ihr auch egal, was sie selbst anrichtet.

Zwei Tote, 40 Millionen Franken Sachschaden – die Überschwemmung des Glyssibachs im Sommer 2005 war alles andere als ein freundlicher Akt der Natur.

Der Bach ist weder gut noch böse. Was am 22. August 2005 passierte, ist reine Physik. Im Einzugsgebiet des Bachs hat es qualitativ schlechtes Kalkgestein. Das Material verwittert rasch und bleibt an den Hängen liegen. Diese Schutthänge sind in permanenter Bewegung – sie fliessen ganz langsam. Bei intensiven Niederschlägen werden die Veränderungsprozesse beschleunigt. Man kann sagen, dieser Berg habe nur eine einzige Absicht: abgetragen und in den See befördert zu werden.

Wie soll der Mensch damit umgehen?

Das müssen wir akzeptieren. Nach rationalem Verständnis müsste man die Siedlungen am Brienzersee eigentlich evakuieren.

Die Erde ist allerdings ganz generell ein eher gefährlicher Ort. Basel wurde vor 600 Jahren durch ein Erdbeben zerstört.

Gewiss, auch von dort müsste man wegziehen, wie noch von vielen anderen Orten. Doch was geschieht? Nach dem Hochwasser 2005 wollten die Brienzer, deren Häuser beschädigt wurden, so rasch wie möglich zurückkehren. Niemand wollte wegziehen.

Warum ist das so?

Diese Gegend bietet sehr viel Lebensqualität. Es gibt so etwas wie emotionale Betroffenheit durch Landschaft. Der Mensch stammt ursprünglich aus der Savanne. Warum hat er es bei seinen Wanderungen auf sich genommen, in die Berge zu ziehen? Ich glaube, dass er hier eine starke Faszination erlebt. Wir brauchen für unser Wohlergehen Naturerlebnisse, das ist wohl genetisch bedingt.

Gibt es auch «vernünftige» Argumente dafür, in den Bergen zu bleiben?

Natürlich. Bei der Planung der Schutzbauten für die Region Brienz wurde eine Nutzwertanalyse vorgenommen. Schutz kann ja nicht um jeden Preis gewährleistet werden. Die Kosten müssen sich vielmehr in einem definierten Verhältnis zu Werten bewegen, die es zu schützen gilt. Schutzmassnahmen haben ihren Preis, sind aber immer noch viel günstiger als eine Verlegung ganzer Siedlungsgebiete. Diese liesse sich praktisch nicht finanzieren und rechtlich wohl kaum umsetzen.

Die Hochwasserschutzprojekte an Trachtbach und Glyssibach kosten zusammen rund 49 Millionen Franken. Ist das der Tarif, den die heutige Bevölkerung für einstige Unterlassungen zu zahlen hat?

In Sachen Wasserbau haben schon frühere Generationen in der Region Brienz grosse Leistungen vollbracht. Sie haben ohne Maschinen Steine gehauen und aus diesen die Gerinne gebaut – die alten Bachschalen zeugen von geradezu kunsthandwerklichem Sachverstand.

Aber offensichtlich erfüllten sie ihren Zweck nicht.

Ursprünglich hatten die Schalen von Trachtbach und Glyssibach die Aufgabe, Wasser mit Geschiebe zu kanalisieren und möglichst direkt in den See zu befördern. Diesen Zweck haben sie hervorragend erfüllt. Ein Murgang hingegen funktioniert anders: Hier fliesst nicht nur Wasser, sondern auch Gesteinsschutt mit. Dabei kommt es in aller Regel zu einem Rückstau im See und in der Folge auch in den Steingerinnen. Die Bachschalen wurden seinerzeit nicht gebaut, um einen Murgang abzuleiten. Diese Aufgabe hat sich nach dem Hochwasser 2005 neu gestellt.

Die Antwort darauf besteht in der Verstärkung und dem Ausbau der Schutzbauten. Was ist Ihr Beitrag dazu?

Die Anlagen, die jetzt entstehen, sind keine rein technischen Bauwerke. Am Glyssibach wächst mitten im Siedlungsgebiet eine wuchtige, 21 Meter breite Verbauung. Diese Korridorbreite ist von den Wasserbauingenieuren vorgegeben. Ein solches Bauwerk kann die Landschaft total dominieren. Mauern sind ja oft negativ besetzt. Denken Sie etwa an Abwehrwälle wie die Chinesische Mauer oder die Berliner Mauer. So eine Wand ist ein rigoroser Eingriff in die Landschaft. Hochwasserschutzbauten brauchen jedoch nicht hässlich zu sein. Sie stellen nämlich auch einen Lebensraum dar – für Tiere und Pflanzen, und natürlich auch für den Menschen. Diesem Aspekt ist meine Arbeit gewidmet.

Wie sind Sie an ihre Aufgabe herangegangen?

Landschaft nehme ich als ganzheitliche geografische Konstellation wahr. Sie umfasst sowohl den Bodentyp als auch die Topografie, das Klima ebenso wie die Tier- und Pflanzenwelt. Diese Gegebenheiten stellen die Grundlage zur Entwicklung einer architektonischen Idee dar, des Geists eines Bauwerks. Beim Hochwasserschutz in den Bergen besteht dieser Geist nicht nur in der Idee der Schutzmauer. Ihre Hauptaufgabe besteht zwar darin, zu verhindern, dass ein Murgang ins Siedlungsgebiet eindringt. Darüber hinaus muss sie aber auch einem ganzheitlichen Anspruch als architektonisches Bauwerk und Lebensraum genügen.

Was heisst das konkret?

Ich möchte dies anhand des Glyssibachs erläutern. Sein Bachbett wird neu als sogenanntes Raubbettgerinne ausgestaltet. Es muss hohen Anforderungen gerecht werden und dem Druck von reissendem Wasser und Geschiebe standhalten. Entsprechend werden genügend grosse und schwere Steinblöcke verlegt. Durch eine geschickte Anordnung der Steinblöcke kann dennoch ein leicht mäandrierendes Niederwassergerinne mit unterschiedlichen Fliessgeschwindigkeiten, Tiefen und sogar ruhigen Wasserzonen geschaffen werden. Die Oberflächen der Mauern werden ferner Ritzenstrukturen und Hohlräume aufweisen – und dadurch Kleinlebewesen Lebensraum bieten.

Sie haben erwähnt, dass Sie dem Schutzbauwerk auch ästhetische Qualitäten verleihen wollen. Mit welchen gestalterischen Mitteln wollen Sie eine Mauer verschönern?

Entlang der Schutzmauern werden Baumnischen für Schatten und Abwechslung sorgen. Ein Teil der Mauer wird eine Struktur erhalten, die sich an den Falten der umliegenden Bergketten orientiert. Statt einer langweiligen, nüchternen Wand ergibt sich auf diese Weise eine bewegte Anordnung. Die Fussgängerbrücke nach Schwanden wird künftig deutlich höher zu liegen kommen – also nutzen wir sie als Aussichtspunkt, der mit Sitzbänken ausgestattet wird.

Sie legen Wert darauf, dass das neue Gerinne des Glyssibachs öffentlich zugänglich ist. Warum? Der Bach gilt doch als ziemlich gefährlich.

Die Schutzbauten sind auf ein Ereignis angelegt, das sehr selten eintritt. Der Glyssibach führt an einzelnen Tagen im Jahr problematische Wassermengen. In der übrigen Zeit ist er harmlos. Es wäre unsinnig, den Zugang durchwegs zu unterbinden. Der Glyssibach und sein Gewässerraum sollen nicht als trennendes Element in der Siedlung verstanden werden, sondern als integrierter Naturraum.

Ausführung setzt Kommunikation voraus

Wie kann der Zugang sichergestellt werden, ohne dass die Schutzfunktion beeinträchtigt wird?

Der Zugang erfolgt über mehrere Treppen entlang der Schutzmauer. Auf der Aussenseite sind die Stufen in die Mauer integriert, auf der Innenseite werden die Abstiege als einfache und leichte Holzkonstruktionen eingerichtet, die bei einem Hochwasser allenfalls mitgerissen werden können. Innerhalb der Schutzmauern wird ferner ein Kiesweg angelegt. Er wird für den Unterhalt wie auch als attraktive Fusswegverbindung vom See zum Tierpark und ins Nachbardorf Schwanden dienen.

Werden die Leute diese Zugänge dereinst tatsächlich nutzen – oder eher einen Bogen um den Wildbach machen?

Ich bin zuversichtlich, dass man dieses Angebot als attraktiv wahrnehmen und entsprechend nutzen wird. Das Hochwasser 2005 hat uns gelehrt, dass die Natur Platz braucht, und das bringt auch dem Menschen etwas – zum Beispiel eben einen neuen Spazier- und Wanderweg dem Bach entlang. In Brienz gibt es seit kurzem ein schönes Beispiel dafür, wie sehr die Menschen bereit sind, sich auf das Spiel der Elemente einzulassen. Beim Sturm Vivian war der Brienzer Quai stark beschädigt worden. Im Zuge der Sanierungsarbeiten ist jetzt direkt am Quai ein Wasserspielplatz eingerichtet worden. Er begeistert nicht nur Kinder, sondern auch viele Erwachsene.

Bei Ihrer Arbeit beziehen Sie auch historische Aspekte mit ein. Sie haben beispielsweise Dokumentationen zu den Verbauungen Glyssibach und Trachtbach vom 19. und 20. Jahrhundert erstellt. Was hat die Geschichte dieser Bauwerke mit den heutigen Herausforderungen zu tun?

Letztlich geht es um Werte: Eine Bachverbauung stellt ebenso ein Kulturgut dar wie ein wertvolles Gebäude. Werte können nur auf einem historischen Fundament Bestand haben und sich weiter entwickeln.

Lassen Sie für Ihre Arbeiten den Begriff Design gelten?

Design bezieht sich in unserem Sprachgebrauch in der Regel auf Gebrauchsgegenstände. Man kann einen Kartoffelschäler «designen». Bei Hochwasserschutzbauten würde ich eher von Gestaltung sprechen.

Wozu eigentlich Gestaltung? In der Honorarordnung für Ingenieure ist ein solcher Posten gar nicht vorgesehen.

Man kann es ganz simpel auf den Punkt bringen: Ein schönes Bauwerk macht Freude. Bauingenieure stellen ja nicht nur Berechnungen an. Sie sind letztlich Kulturschaffende. Jeder Mensch, jeder Kulturkreis hat einen gestalterischen Willen. In Europa hat sich dieser in früheren Zeiten zum Beispiel im Kirchenbau gezeigt. Kirchen werden heute kaum mehr gebaut, im Gegenteil, manchenorts stehen sie bereits zum Verkauf. Hochwasserschutzbauten stellen demgegenüber eine Möglichkeit dar, in unserem Land auch im 21. Jahrhundert Gestaltungswille zu zeigen.

Schutzbauten als Kathedralen des 21.Jahrhunderts – ist das nicht etwas übertrieben?

Wir können doch nicht 50 Millionen in Schutzbauten investieren, die jedermann hässlich findet. Gerade in der Region Brienz besteht eine hohe handwerkliche Fertigkeit. Die traditionelle Holzschnitzerei und das Geigenbauhandwerk sind Ausdruck davon. Alte Brienzer Häuser sind nicht einfach Holzkisten, sondern schmucke Bauwerke. Vor diesem Hintergrund ist auch eine Verpflichtung für die Ausgestaltung der Hochwasserschutzbauten entstanden. Die Landschaft soll ihren hohen ästhetischen Wert behalten, zum Nutzen der einheimischen Bevölkerung wie auch zur Freude der Gäste, welche die Region in ihren Ferien besuchen.